Reporter beschreibt Kollegen Phantombild im Selbstversuch: Der Fluch der hundert Nasen

Wie entsteht ein Phantombild? Ein t-online-Reporter hat den Selbstversuch gemacht und einen Kollegen aus dem Gedächtnis beschrieben – mit durchwachsenem Ergebnis.
Die meisten Menschen kommen hoffentlich nie in die Verlegenheit, bei der Anfertigung eines Phantombilds mitwirken zu müssen. Schließlich bedeutet das in den meisten Fällen, dass sie Zeuge oder gar Opfer einer schweren Straftat geworden sind. Aber wie läuft es ab, wenn man doch mal jemanden beschreiben muss?
Die Phantombildzeichner der Polizei Berlin sitzen im Gebäude des Landeskriminalamts am Tempelhofer Damm. Der Befragungsraum, wo die Bilder angefertigt werden, liegt im ersten Stock. Als Zeuge darf man auf einem Stuhl vor mehreren Bildschirmen Platz nehmen, neben der Mitarbeiterin, die das Phantombild anfertigt.
Den ersten Dämpfer gibt es gleich
Um den Ernstfall zu simulieren, beschreibt ein t-online-Reporter hier heute einen seiner Arbeitskollegen. Die Phantombildzeichnerin weist aber auf eine Hürde hin. Wen man sehr gut kenne, könne man schlechter beschreiben, sagt sie. Wenn man Gesichter zum ersten Mal sehe, speichere man sie ganz anders ab. Man merke sich Merkmale, um die Person wiederzuerkennen. Der erste Dämpfer gleich zum Start.
Als Zeuge muss man die gesuchte Person nicht aus dem Gedächtnis mit Worten beschreiben, sondern aus vielen kleinen Bausteinen zusammensetzen. Los geht es mit der Kopfform. Aber hat der Kollege jetzt ein eher längliches Gesicht oder doch eher oval? Wie markant ist der Kiefer? Die Bilder im Kopf verschwimmen schnell. Nehmen wir mal den.
"Was sind denn besonders markante Merkmale im Gesicht Ihres Kollegen?", fragt die Zeichnerin. Klar, der Schnurrbart. Da ist der richtige schnell gefunden. Aber wie lang ist der noch mal genau? Und in welcher Höhe sitzt der überhaupt im Gesicht?
Die Ohren sind egal
Alle Vorlagen im Computer des LKA sind von einer Mitarbeiterin selbst gezeichnet worden. Es gibt 75 Kopfformen, an die hundert Nasen, Münder und Augenpaare, etliche Bärte, Augenbrauen, Frisuren und Kopfbedeckungen. Nur Ohren gibt es keine zur Auswahl. Die würden bei der Wiedererkennung von Menschen so gut wie keine Rolle spielen, erklärt die Zeichnerin.
Bei den Augen muss man sich zum Glück nicht an die Farbe erinnern. Hell oder dunkel reicht, denn Phantombilder kommen in der Regel in schwarz-weiß daher. Nur bei besonders auffälligen farbigen Details mache man eine Ausnahme, sagt die Zeichnerin. Aber wie soll man aus dieser Masse an Augen die richtigen auswählen? Und wie ist der Abstand zwischen den Augen? Dieser Termin ist nervenaufreibender als jedes wichtige Politikerinterview. Aus hundert Nasen passt keine so richtig. Aber auch die sei für die Wiedererkennung gar nicht so wichtig, sagt die Zeichnerin. Die Frisur ist zum Glück unter der Kappe versteckt.
Nach knapp einer Stunde ist das Bild fertig. Die Zeichnerin nimmt mit Photoshop noch einige Anpassungen vor, verpasst der Zeichnung noch leichte Augenringe und ein paar Falten, 16 ist der Kollege schließlich nicht mehr.
Aber ist er das jetzt? Erkennt man ihn? Ja, total! Das ist er doch! In allen Erinnerungen hat der Kollege längst das schwarz-weiße Bleistiftgesicht angenommen. Das ist uns ja wirklich hervorragend gelungen.
Zurück in der Redaktion, eingeholt von der Wirklichkeit. In Wirklichkeit sieht der ja doch ganz anders aus. Das Kinn viel markanter. Die Augen weiter auseinander. Die Kappe sitzt viel höher auf dem Kopf. Und die Nase, verdammt, die verfluchte Nase.
Fazit: Geht so
Das Feedback in der Redaktion fällt dementsprechend zurückhaltend aus. Na ja, Schnurrbart und Kappe halt, da weiß man schon wer gemeint ist. Aber wirklich erkannt hätten wir ihn nicht. In Berlin sieht doch jeder Dritte so aus. Mit seinem Verbrechen würde er vermutlich durchkommen.
Trotz zwischenzeitlichem Optimismus ist es wirklich so schwer wie gedacht, ein Phantombild aus dem Gedächtnis zu erstellen. Die Zeichnerin macht aber Hoffnung. In Extremsituationen arbeite das Gehirn anders. Deshalb hätten Zeugen eines Verbrechens oft ein viel klareres Bild vor Augen. Was trotzdem nicht schaden kann: Den Menschen im Umfeld mal wieder etwas genauer ins Gesicht zu schauen.
- Reporter vor Ort


