Einsamkeit in der Großstadt "Das ist ein Alarmsignal"

Einsamkeit gilt als Tabuthema. Dabei sind viele Menschen weltweit davon betroffen. In Berlin gibt es eine Frau, die sich hauptberuflich um dieses Problem kümmert.
Berlin gilt als "Hauptstadt der Einsamkeit": Jeder zehnte Bürger soll inzwischen von Einsamkeit betroffen sein. Im Bezirk Reinickendorf leben viele ältere Menschen – eine Gruppe, die besonders häufig einsam ist. Statistisch gesehen ist Einsamkeit in Reinickendorf laut Bezirk für mindestens 26.600 Bürger ein Thema. Die Dunkelziffer ist vermutlich noch höher.
Deshalb schuf die Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner im vergangenen Jahr die auf Verwaltungsebene deutschlandweit erste Stelle einer Einsamkeitsbeauftragten.
Seit Juli 2024 ist Katharina Schulz im Bezirk dafür verantwortlich. Gleichzeitig ist sie Beauftragte für bürgerschaftliches Engagement. Sie sorgt dafür, dass es in Reinickendorf niedrigschwellige Angebote gibt, die gegen Einsamkeit helfen. Die Menschen sollen so, zum Beispiel durch Stammtische, mit anderen Menschen in Kontakt kommen. Über 100 Einrichtungen im Bezirk machen darauf aufmerksam.
Im Interview berichtet Schulz über ihren außergewöhnlichen Beruf. Sie erklärt, was Einsamkeit ist und wie gefährlich diese sein kann. Zudem gibt sie Tipps, wie betroffene Menschen dagegen vorgehen können.
t-online: Viele Menschen sind weltweit von Einsamkeit betroffen, es wird gefühlt aber noch sehr wenig darüber gesprochen. Warum ist das so?
Schulz: Einsamkeit ist ein Tabuthema, Einsamkeit ist leise. Das ist ein Problem. Betroffene trauen sich oft nicht, darüber zu sprechen. Es ist wie ein Outing und löst bei vielen ein Schamgefühl aus. Und es wird oft die Unterstellung verbunden, dass ein Mensch im Leben versagt hat. Dabei ist Einsamkeit nichts, wofür sich ein Mensch selbst entscheidet.
Wie meinen Sie das?
Einsamkeit ist das Gefühl, nicht gebraucht, gehört, gesehen oder geliebt zu werden. Das kann jeden Menschen treffen, unabhängig vom Alter, vom Geschlecht, vom Einkommen oder von der Herkunft. Diesen Zustand wählen wir nicht selbst. Deshalb unterscheiden wir zwischen "einsam" und "alleine" sein. Für Letzteres entscheiden wir uns. Alleinsein kann im Gegensatz zur Einsamkeit kreativ, schaffend und befreiend sein.
Welche Faktoren können denn zur Einsamkeit führen?
Die Ursachen sind vielschichtig. Der Verlust eines geliebten Menschen kann ein Auslöser sein. Oder wenn Menschen in die Rente gehen und ihnen plötzlich die Routine im Leben fehlt. Es kann aber auch Studenten treffen, die in eine neue Stadt ziehen und niemanden kennen. Menschen mit Migrationshintergrund können gefährdet sein, Einsamkeit zu erleben, da Sprachbarrieren und fehlende Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe den Aufbau von sozialen Kontakten erschweren können. Und man kann festhalten: Es gibt generell weniger echte Beziehungen oder Gemeinschaften.
Je mehr Präventionsmaßnahmen es gibt, desto mehr können wir helfen.
Katharina Schulz, Einsamkeitsbeauftragte in Berlin
Ist das Problem in größeren Städten wie Berlin besonders groß?
In kleinen Städten ist es normal, jemanden auf der Straße zu grüßen. Da ist der Zusammenhalt größer. Natürlich unterstützen wir uns hier in Berlin auch. Ich denke da zum Beispiel an die Sturmschäden im Bezirk Reinickendorf. Da haben viele verschiedene Menschen angepackt. Aber die Situation ist insgesamt schon anders gelagert, weil die Anonymität in Großstädten viel größer ist. Das kann frustrierend sein. Ich persönlich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, zehn Jahre neben meinem Nachbarn zu wohnen, ohne ihn zu kennen. Das fände ich traurig und erschreckend.
Welche Auswirkungen kann Einsamkeit auf Körper und Psyche haben?
Es wird gefährlich, wenn es chronisch wird. Dann kann es extreme Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben: Angststörungen, Schlafstörungen, Depressionen. Wir reden von psychischen Problemen bis zum Suizid. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen können auftreten oder verstärkt werden. Ein Mensch, der chronisch einsam ist, schadet sich mehr, als es 15 gerauchte Zigaretten am Tag tun.
Das klingt dramatisch.
Es wird uns teuer zu stehen bekommen, wenn dieses Thema nicht mehr Aufmerksamkeit bekommt. Je mehr Präventionsmaßnahmen wir schaffen können, desto mehr Menschen können wir helfen. Und desto mehr werden die Krankenkassen entlastet.
Was können betroffene Menschen tun?
Sie müssen den Mut haben, darüber zu sprechen. Ich kann verstehen, dass sich Menschen aufgrund mancher Erfahrungen im Leben verschließen. Aber wenn man sich öffnet, hat man eine Chance. Und die Personen müssen die Angebote, die bereits bestehen, wahrnehmen. Ich könnte Ihnen ein Beispiel nennen.
Gerne.
Mich hat eine Bürgerin aus Reinickendorf angerufen und mir von ihrer Einsamkeit erzählt. Ich habe geschaut, wo sie wohnt und gesehen, dass sich gegenüber von ihr ein neues Stadtteilzentrum befindet. Ich habe ihr Mut zugesprochen und gesagt: "Trau dich, geh rein." Das hat sie getan und nun ist sie integriert, etwa bei einem unserer Stammtische gegen Einsamkeit. Dort habe ich sie auch getroffen. Sie war dort mit zwei bis drei Freundinnen am Schnacken.
Das heißt: Betroffene müssen schon selbst aktiv werden.
Genau. Wir können Angebote in der Wohnumgebung der Betroffenen schaffen und Impulse setzen. Den ersten Schritt müssen die Menschen selbst machen. Manchmal gehört nur ein Fünkchen Mut dazu.
Hier in Berlin-Reinickendorf schaffen Sie seit einiger Zeit als Einsamkeitsbeauftragte solche Angebote. Mit dieser Stelle stehen Sie deutschlandweit fast alleine dar.
Andere Städte, Bezirke und Gemeinden sind bereits auf uns zugekommen, nachdem diese Stelle geschaffen wurde. Wir sind im Austausch mit anderen Berliner Bezirken, die berichten, dass sie dieses Problem ebenfalls erkannt haben. Der politische Wille, wie ihn unsere Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner vorlebt, muss da sein, um solche Stellen zu schaffen und grundlegend etwas bewegen zu können.
Es kommen in Reinickendorf immer mehr Menschen dazu, die über Einsamkeit sprechen.
Katharina Schulz, Einsamkeitsbeauftragte in Berlin
Wie genau sehen diese Präventionsmaßnahmen im Bezirk Reinickendorf aus?
Wir haben uns zunächst auf die Senioren fokussiert und damit gestartet, Anlaufstellen niedrigschwellig sichtbar zu machen. Dafür haben wir einen Sticker mit einem QR-Code erstellt, an dem unsere Kooperationspartner aufgelistet sind. Das sind etwa Mobilitätshilfedienste, Senioren-Freizeiteinrichtungen, Stadtteilzentren, Glaubensgemeinschaften und viele mehr. Zudem haben wir eine fachübergreifende Arbeitsgruppe Einsamkeit gegründet, in der wir regelmäßig über Maßnahmen sprechen.
Nachdem Sie Menschen aus der Einsamkeit geholfen haben: Was spiegeln sie Ihnen wider?
Sie sind sehr dankbar, wenn man zuhört. Es kommen immer mehr Menschen dazu, die über ihre Einsamkeit sprechen. Das ist ein gutes Zeichen. Jetzt legen wir den Fokus auf Einsamkeit unter Jugendlichen. Während der Corona-Pandemie sind die Zahlen der unter Einsamkeit leidenden Jugendlichen in die Höhe geschossen. Das Erschreckende ist, dass die Werte nach Corona nicht wieder auf den Zustand vor der Pandemie zurückgefallen sind. Das ist ein Alarmsignal. Deshalb arbeiten wir nun unter anderem mit Schulen und Streetworkern zusammen.
Das Thema soziale Medien spielt dabei sicherlich eine Rolle. Wie beeinflusst es die Jugendlichen und jungen Menschen?
Jugendliche haben teils zwei Millionen Follower und wenn das Handy ausgeht, sitzen sie einsam und verlassen da. Die Digitalisierung hat Chancen und Risiken. Einsamkeit kann ein Treiber für Radikalisierung und für demokratiefeindliche Tendenzen sein. Da spielen soziale Medien eine große Rolle. Gleichzeitig birgt es auch Chancen, weil man Menschen kennenlernen kann. Als älterer Mensch ist man etwa mit seiner Familie oder mit Freunden digital verbunden über viele Kilometer oder über Kontinente hinweg.
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Was muss sich generell innerhalb der Gesellschaft ändern, um das Thema Einsamkeit zu bekämpfen?
Wir brauchen mehr Achtsamkeit. Klar, es ist ein hektischer Alltag und wir haben alle viel zu tun. Doch wir sollten aufeinander aufpassen. Nicht jeder Mensch hat ein großes soziales Umfeld. Aber es gibt ja die Nachbarschaft beispielsweise. Ein Senior, der alleine ist, freut sich, wenn man bei ihm vorbeischaut, mit ihm spricht oder gemeinsam zu Abend isst. Da hilft die Gemeinschaft im Kiez sehr. Doch die kommt nicht von alleine. Eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, ist harte Arbeit, die sich aber lohnt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Hier finden Sie eine Auflistung der einzelnen Anlaufstellen im Bezirk Reinickendorf.
- Interview mit der Einsamkeitsbeauftragten Katharina Schulz in Berlin-Reinickendorf
- berlin.de: Einsamkeitsbeauftragte von Reinickendorf

